Slam04 – Ich bin’s

vorgetragen auf der 2. Weinheimer Poetry Slam am 26.06.07

Ich bin’s.

Ich bin der, der vor Dir steht. An der Kasse. Mit dem übervollen Wägelchen. Ich bin’s, der die Münzen aus dem Geldbeutel holt, Cent für Cent für Cent. „Es reicht nicht ganz? Na, dann nehme ich halt doch den Schein, hihi! Dachte, ich hätt’s passend.“

Ich bin’s, der den Sprudelkasten mit EC-Karte bezahlt. Der seine Geheimzahl erst einmal falsch eingibt. Ich bin’s.

Ich bin der, der die Parklücke früher sieht. Der vor Dir reinrutscht. Ich bin der, den Du anhupst. Ich bin der, dem das egal ist.

Ich bin der, der vor Dir fährt. Ich bin’s, der bei gelb schon bremst, wenn Du noch rüberfahren willst. Ich bin der, der in tiefer Nacht im Schneckentempo vor Dir durch die Spielstraße fährt. Ich bin der Arsch von der Überholspur, der mit 100 KaEmHa noch an ´nem Laster vorbei will, obwohl Du blitzhupenderweise als kleiner weißer Fleck im Rückspiegel erkennbar bist.

Ich bin der mit dem riesigen Rucksack, in den Du gerade volle Kanne hineingelaufen bist, weil ich an einer roten Fußgängerampel überraschenderweise abrupt stehen geblieben bin.

Ich bin der, der vor Dir sitzt, im Konzert, im Theater, im Kino, ich bin der, der nicht durchsichtig ist, der Dir den Blick nimmt. Ich bin der, der dauernd hustet, während Du an dieser zauberhaften pianissimo-Stelle mit geschlossenen Augen den Streichern lauschen willst. Ich bin der mit dem ekelhaften Parfum. Und ich bin auch der mit dem Schweißgeruch.

Ich bin der, der Dich in der S-Bahn andauernd anstarrt. Die Buchstaben auf der Rückseite Deiner Zeitung wegliest, während Du Dich auf der Vorderseite meinetwegen nicht mehr konzentrieren kannst. Ich bin der, der Dich im Zug ignoriert. Sich ohne zu fragen einfach neben Dich setzt. Nach nervtötenden 30 Sekunden endlich sein Sex-Bomb-Klingelton-Handy bedient und für alle vernehmbar die bahnbrechenden Worte „Ja, ich sitze im Zug.“ von sich gibt.

Ich bin der, den die Marktfrau zuerst bedient. Ich bin der, der beim Metzger vor Dir dran ist. Der beim Buchhändler eine umfängliche Suche nach einem unbekannten Autor auslöst: „Ich weiß nur, dass er Ulf mit Vornamen heißt.“ „Und der Titel?“ „Irgendwas mit `Leben`“ antworte ich am Anfang eines längerdauernden Dialogs am Anfang einer länger werdenden Warteschlange.

Ich bin der Fuzzy, der beim Rockkonzert mittanzt, mithampelt, mitgröhlt. Während Du ganz einfach nur gucken, hören, genießen wolltest.

Ich bin Dein freundlicher Nachbar, der bei „Wetten dass“ die Bohrmaschine startet und mindestens wenn nicht noch mehr Dübel sorgfältigst in die Wand reinhämmert.

Ich bin Dein freundlicher Nachbar, der seine täglichen Klarinettenübungen genau dann herausträllert, während Du für die Nachtschicht vorzuschlafen versuchst.

Ich bin die Fliege, die Dich morgens weckt.

Ich bin die Schnake, die Dich keinen Schlaf findet lässt.

Ich bin der Heini, von dem Dir Deine Frau immer erzählt. Der es regelmäßig schafft, bei Tageslicht nach Hause zu kommen. Und dann noch was im Garten zu arbeiten. Der nie in die Kneipe geht. Der im Haushalt mithilft, Staub wischt, Staub saugt, Wäsche wäscht, zusammenlegt, den Abwasch macht, die Straße fegt. Ich bin’s! !Der, von dem Deine Frau erzählt.

Ich bin der, den Du nicht grüßen willst. Ich bin der, der Dich so laut grüßt, dass Du zurückgrüßen musst.

Ich bin der, von dem Du glaubst, dass er im Fahrstuhl einen ziehen gelassen hast. Von dem Du glaubst, dass er intravenös mit Knoblauch ernährt wird.

Ich bin der, von dem Du vermutest, dass ich neidisch bin auf Dein Auto. Auf Dein Haus. Auf Deine Familie. Ich bin der, auf dessen Auto, Haus, Familie Du neidisch bist.

Ich bin der, der Dich mobben will. Dir den Job wegnehmen will. Mehr als Du verdienen will.

Ich bin der, der immer schneller ist als Du.

Ich bin der, der immer mehr Glück hat als Du.

Ich bin der, der „doch nicht normal!“ ist.

Ich bin der, der Dir diebisch gerne ungebetene Tipps gibt. Wie man erfolgreich ist. Wie man gesund bleibt. Wie man sich organisiert im Leben. Wie man glücklich lebt.

Ich bin der, der Du nicht sein willst. Ich bin der, den Du verachtest.

Ich bin der, zu dem Du mich machst!

© Ulf Runge, 2007

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10 Kommentare Gib deinen ab

  1. Mo sagt:

    Aber ich bin auch der , der in sich noch den Wunsch verspürt , sich ganz einfach mal freundlich zu bedanken.

    (In Anlehnung an „Amelie Taffe“) 😉

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  2. andrea2007 sagt:

    Waoh, das ist klasse! Kompliment!

    ich bins, der mir selber einen spiegel vorhält? man sagt doch, die dinge, die einen bei den anderen stört, sind die dinge, die man auch an sich selber nicht mag…
    lgr andrea

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  3. Ulf Runge sagt:

    Liebe Mo,
    danke, dass Sie den Duktus aufgreifen…
    Danke für das Danke!
    LG, Ulf Runge

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  4. Ulf Runge sagt:

    Liebe Andrea,

    danke für Dein „Waoh“!

    Genau, ich habe die Dinge beschrieben, von denen ich glaube, dass andere diese bei mir als störend empfinden, ich habe aber auch ebenso die Verhaltensweisen auf mich als vortragende Person projiziert, die ich bei anderen unangenehm empfinde.
    Doch es geht nicht darum, dass jemand anders nicht mehr Körpergeruch haben soll, oder ich.
    Es geht darum, dass ich wir doch alle erkennen sollten, dass wir tolerant mit anderen sein sollten, wenn wir wollen, dass man auch nachsichtig ist mit uns.
    LG, Ulf

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  5. andrea2007 sagt:

    Lieber Ulf, ganz genau und das kam in Deinem Beitrag 1:1 rüber, also nochmal „waoh“…:-) lgr andrea

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  6. Ulf Runge sagt:

    Liebe Andrea,
    merci vielmals.
    LG, Ulf

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  7. Barbara sagt:

    Das ist [= du? ;-)] GENIAL!

    LG
    Barbara

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  8. Ulf Runge sagt:

    Liebe Barbara,

    danke für dieses spontane und starke Kompliment.
    Und für Deinen ersten Kommentar hier.

    Du ist okay.

    Liebe Grüße, Ulf

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  9. Barbara sagt:

    Haha, so is dat mitte Worte… Danke fürs du, aber was ich damit ausdrücken wollte, ist: Das ist genial = du bist genial.
    Ich bin eigentlich eher langatmig. Da fasse ich mich eiiin Mal kurz, und was ist: man versteht mich nicht. *g*

    LG
    Barbara

    PS: Danke auch für deine netten Worte auf meine Beiträge hier & da.

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  10. Ulf Runge sagt:

    Liebe Barbara,

    ja, mit den Smileys habe ichs nicht so ganz. Danke für die Auflösung. Schön, dass Dir das so gut gefällt.

    Liebe Grüße, Ulf

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