Alles Husten!

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Leben 1134 – 22.07.14

Alles Husten!

Wenn ich über Musiktheater schreibe, stellt sich die berechtigte Frage, wen denn dann das schon interessieren könnte? Ich kenne nicht die Größen der Szene und so viele Opern habe ich auch noch nicht gesehen/gehört. Trotzdem verliere ich jetzt ein paar Zeilen über den gestrigen Besuch im Nationaltheater Mannheim.

Auf dem Weg in die Vorstellung fällt mir ein, dass es in den sechziger Jahren einen Wort- und Lach-Künstler gab – wir würden ihn heute Comedian nennen -, der auf sehr subtile Weise die Welt erklärt hat: Adolf Tegtmeier hieß die Figur des kleinen Mannes aus dem Ruhrpott, mit der Jürgen von Manger Bildungsbürgerwissen unters Volk brachte.

Wir hatten da eine Vinyl-Schallplatte mit der „Fahrprüfung“, dem „Schwiegermuttermörder“ und noch weiteren „Stegreifgeschichten“. Und in einem dieser Sketche verrät uns Jürgen von Manger, was er denn über die bedauerliche, weil tuberkulosekranke Hauptperson Violetta in „La Traviata“ zu berichten weiß: „Alles Husten!“

Bis jetzt, wenige Minuten vor meinem „La Traviata“-Erstbesuch gab es über 50 Jahre lang genau diese eine Assoziation: „Alles Husten“.

Nun, die Vorstellung war ungehustet, die Geschichte todtraurig und ohne Happy End. Nichtsdestotrotz hat mir die Oper gut gefallen:

@Verdi: Klasse Arien!

@Solistinnen, Solisten, Chor: Ausdrucksstarker und dichter Gesang, einfühlsame Mimik!

@Orchester incl. Dirigent: Ich habe es genossen, von der Loge aus den Orchestergraben sehen zu dürfen; total konzentrierte Höchstleistung; an Klarinette und Oboe habe ich meine besondere Freude gehabt

@Inszenierungsverantwortliche und das Team dahinter: Maximal reduziertes Bühnenbild, das es erlaubt sich auf Handlung und Musikkunst zu fokussieren; teilweise total witzig, etwa wie aus Damenkleidern und Stöckelschuhen behörnte Stierkampfrinder werden. Überhaupt: Wunderbar einfach gehaltene Kostüme, die durch markant farbige Attribute die unterschiedlichen Rollen hervorheben.

Mehr mag ich als Opernkunstbanause hier nicht zum Besten geben.

Außer eines noch.

Elfmeterschießen ist ohne jede Dramatik, wenn man sich an den gestrigen 2. Akt zurück erinnert.

Man stelle sich folgendes vor: Eine große leere Bühne. Diagonal liegt auf dem Boden ein „Laufsteg“ aus einer Art Teppichrollenmaterial, ein langer weißer Streifen. Die Idee ist, dass die wenigen Hauptdarsteller genau hier hin und her laufen.

Es geschieht in der kurzen Umbaudunkelheit nach dem 1. Akt, der Laufsteg liegt auf einmal nicht mehr ganz gerade, er macht eine leichte Kurve und genau dort, wo die Teppichrolle ein bisschen die Richtung ändert, wellt sich das Material nach oben, und bildet vom Boden bis in Kniehöhe ein gefährliches Hindernis auf einer Länge von einem knappen Meter.

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Violetta steht am vorderen Rand der Bühne, und von hinten bahnt sich Alfredos Vater singend und schnellen Schrittes den Weg zu Violetta. Er muss über den hochgewellten Knubbel rüber, beschleunigt seinen Lauf. Und springt. Absolut sportlich.

Nun nähert er sich Violetta von hinten, umfasst sie und beide bewegen sich heftig ariensingend im Zeitlupentempo rückwärts auf den Knubbel zu. Alfredos Absätze sind jetzt in der Zone, wo der Knubbel vom Boden abhebt und jeder Schritt gefährlich ist wie auf einer Eislaufbahn. Durch das vorsichtige Rückwärtsgehen verschiebt sich der Knubbel ein bisschen. Schritt für Schritt wird der Knubbel zurückeschoben. Beim jeweils nächsten Schritt muss der sich bewegende Fuß den Knubbel aus leicht luftiger Höhe herunterholen und Standfestigkeit herstellen.

Rückwärts sagte ich. Während Alfredos Vater die Gefahr an den Schuhen spürt, ohne sich nach ihr umschauen zu können, ist Violetta womöglich ahnungslos. Verbale Kommunikation zwischen den beiden ist nicht möglich, sie müssen singen, singen, singen. Und schrittweise laufen, laufen, laufen.

Dann bewegen sich die beiden sich endlich wieder vorwärts, weg vom Knubbel. Die Gefahr ist für Sekunden gebannt. Nur für Sekunden, weil nun weitere Protagonisten (Alfredo und Violettas Arzt) auftauchen. Und ebenfalls den großen weiten Raum der Bühne choreografiekonform verschmähen. Es muss der Laufsteg sein, der zu Violetta führt.

Unter „Lebensgefahr“ läuft Alfredos Vater rückwärts zu den beiden anderen Männern, es gelingt ihm, heil über den Knubbel rüber zu kommen. Links vom Knubbel: Violetta. Rechts davon: die Männer.

Dann passiert etwas Überraschendes. Violetta verlässt den Laufsteg zur Seite hin, so als dürfte sie das einfach, und Alfredos Vater erkennt seine Chance: er läuft jetzt nonchalant, „rein zufällig“ und erbarmungslos wie eine Dampfwalze (so wie bei „Ein Fisch namens Wanda“) den Knubbellaufsteg lang, bis er die Luftwelle am Ende rausgelaufen hat.

Es gab verschiedene Situationen, in denen es berechtigterweise Szenenapplaus gab. Dieser Knubbelbeseitigungsaugenblick war auch so ein magischer Moment, den man lautstark hätte feiern können. Ist aber nicht passiert. Allerdings hatte ich in dieser Situation schon das Gefühl, dass alle im Publikum einmal tief durchgeatmet haben.

Was bis jetzt ungeklärt ist: War der Knubbel Absicht? Sollte er die Schwierigkeit symbolisieren, mit der Alfredos Vater zu kämpfen hatte, um Violetta davon zu überzeugen, dass sie von Alfredo Abstand nehmen solle?

Ich habe das mit einem anderen Besucher diskutiert. Wir kamen zu dem Schluss, dass ein weiterer Besuch der Oper keinen Aufschluss bringen würde. Wenn der Knubbel Absicht ist, könnte es beim zweiten Besuch trotzdem passieren, dass der Knubbel nicht zustande kommt. Die Mathematik kennt da das Gesetz der Großen Zahlen. Das gilt, wenn ein Experiment ca. 1000 Mal durchgeführt wird.

Im Ernst: Ich bewundere die Contenance und Leichtigkeit, mit der die handelnden Personen mit dieser Herausforderung umgegangen sind.

Chapeau!

„Alles Husten!“ war vorgestern. Für mich ist „La Traviata“ jetzt die Hubbeloper.

© Ulf Runge, 2014

3 Kommentare Gib deinen ab

  1. sweetkoffie sagt:

    🎵🎵 … Alfredo, Alfredo, di questo core …. 🎶🎶

    Ach, ich liebe es …

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  2. Ulf Runge sagt:

    Liebe sk,

    in der Tat waren da einige besonders schöne Arien und Melodien dabei.
    Ich bedauere, dass ich mir (unbekannte, erstmalig gehörte) Musik nicht so leicht merken kann wie etwa einen Gedanken, den ich mir mit Stichoworten bis ans Ende einer Aufführung merken kann. So bleibt „nur“, alles noch einmal anzuhören, um eine persönliche „Playlist“ zu erstellen. 🙂

    Auf die Frage, was denn „Alfredo, Alfredo, di questo core“ heißen mag, antwortet leo.org mit extrem vielen, aber nicht wirklich hilfreichen Informationen,
    Schneller ist man bei Google-Übersetzer bedient: „Alfredo, Alfredo, dieser Kern“

    Am besten man fragt Experten:
    http://www.murashev.com/opera/La_traviata_libretto_Italian_German: Dort findet sich
    „Alfredo, du weißt nicht, wie ich dich liebe!“

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  3. Ulf Runge sagt:

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