Einkaufswägelchen

Leben 313– Samstag, 20.09.08

Einkaufswägelchenausgeladenhabenderweise stehe ich in der Mitte zwischen zwei Parkplätzen für genau selbige Schiebegelegenheiten. Kann mich fast nicht entscheiden, wohin ich es rückgabehalber rollen soll. Zum Parkplatz direkt am Eingang des Supermarktes? Oder in die entgegengesetzte Richtung zum anderen?

Merke, dass ich mir selber im Weg stehe. Bin so erzogen, dass ich die Sachen dorthin zurückbringe, wo ich sie weggenommen habe. Also zum Eingang und die geliehene Sache dort wieder abstellen. Ganz brav.

Wo mein Konflikt ist? Da gibt es den freundlich grüßenden Herrn, der den ganzen Tag (fast) nicht anderes tut, als Wägelchen aufzuräumen. Soll ich seinen Arbeitsplatz riskieren, bloß weil es auf einmal nichts mehr aufzuräumen gibt?

Und so stehe ich hier, und trau mich nicht.

Trau mich nicht, das Wägelchen meinen Normen entsprechend zurückzustellen.

Trau mich nicht, das benutzte Papiertaschentuch eine anderen, unachtsamen Mitmenschen vom Eisenbahnwaggonfußboden aufzuheben und in den seinerzeit für Zigarettenkippen gedachten „Aschenbecher“ zu werfen, wohl wissend, dass von Fahrgästen sauber gehaltene Züge weniger Reinigungspersonal benötigen.

Trau mich nicht, keine Rabattmärkchen an der Supermarktkasse einzufordern, weil sonst die Rabattmärkchendruckereimitarbeiter nichts mehr zu tun haben.

Trau mich nicht, nicht zu tun, was alle tun, weil sonst das System zusammenbricht.

Merke schließlich, dass ich immer noch hier stehe mit meinem Einkaufswägelchen. Halte ein weiteres Mal inne, schließe die Augen, stelle mir vor, dass jetzt alle ihr Wägelchen dorthin zurückbringen, wo sie es hergenommen haben. Dass ein Drecktaschentuch am Fußboden, noch bevor es von einem zweiten Augenpaar erblickt wird, von den Händen des ersten bereits entsorgt ist.

Träume davon, dass das Reinigungspersonal nicht mehr dafür bezahlt wird, vermeidbaren Schmutz zu beseitigen. Sondern dafür, dass es freundlich durch die Weltgeschichte läuft und sich bei den umweltreinhaltenden und wägelchenzurückschiebenen Mitmenschen für ihr Wohlverhalten bedankt.

„Darf der weg?“ weckt mich eine zuvorkommende Stimme, fragt mich, ohne es wirklich auszusprechen, ob ich denn auch ein Geldstück in den Schlitz gesteckt habe. Entreißt mir sanft den leeren Wagen, drückt mir lächelnd ein Eineurostück in die Hand.

© Ulf Runge, 2008

18 Kommentare Gib deinen ab

  1. corax sagt:

    Hallo Ulf,

    ein Freund von mir schimpfte mal über die
    Werbung einwerfen verboten
    Schilder an Briefkästen.

    Da hab ich erst gestutzt, bis bei mir der Groschen fiel.
    Er ist Drucker von Beruf.

    Glück auf! :–)

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  2. Ulf Runge sagt:

    Lieber Corax,

    da stellt sich natürlich die Frage:
    Druckt er Werbung? Oder „Werbung einwerfen verboten“ Schilder?

    Ich glaube: Beides.

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  3. Lieber Ulf,
    es ist köstlich, Deine Texte zu lesen. Manchmal sind sie wie ein Blick in die menschliche Seele, die die meisten Leute der Außenwelt verweigern. Aus Angst, seltsam zu wirken, anders zu sein, was auch immer. Diese Gedankengänge und die Beschäftigung mit Deinem Ich, was es will oder nicht und letztendlich vielleicht tut, das ist klasse. Und wie bei dem Einkaufswägelchen … Sooo vieles von uns Gedachtes, Begrübeltes – löst sich in Luft auf! 🙂
    Liebe Grüße
    Ellen

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  4. andrea2007 sagt:

    Lieber Ulf, ich seh es förmlich vor mir, wie Du da stehst- handlungsunfähig zwischen ordnungsliebend und an-andere-Menschen-denkend, wie Dir all diese wunderbaren Gedanken durch den Kopf gehen und Dir dann das Leben die Entscheidung zum Guten aus der Hand nimmt… Einfach schön…Einen schönen Sonntag, ganz liebe Grüsse Andrea

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  5. Ernst sagt:

    Hallo Daydreamer!

    Ich sende Grüße aus Wien und bin über die Seite von Andrea2007 hierher gelangt.

    In Bezug auf deinen geschriebenen Text könnte ich dir einen Kinofilm bzw. Dokumentation empfehlen der gerade in den Wiener Kinos läuft.

    Der Filmtitel lautet Kairo – all inclusive. Ein Stadtporträt der anderen Art.

    Die Mutter aller Städte wird in 7 Kapiteln abseits des Tourismus präsentiert, und wir Betrachter wundern uns wo Menschen überall leben können.

    liebe sonntägliche Grüße aus Wien sendet Dir Ernst

    PS: Ich glaube nicht das in der 20 Millionen Megacity ein gebrauchtes Taschentuch eine Rolle spielt, und ein Einkaufswägelchen wird dort vielseitige Verwendung finden – und zwar in Varianten die wir uns gar nicht vorstellen können.

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  6. Elisabeth sagt:

    Du lieber Ulf,
    du denkst Gedanken, die ich und viele andere Menschen auch denken – du aber schreibst sie nieder und bringst uns damit zum Lächeln oder auch zum Lachen. Auch über uns selbst.
    Ich liebe deine Aufheiterungen und erkenne mich immer wieder selbst in deinen Schilderungen 🙂
    Herzlichen Dank für deinen Sonnenschein, der durch unsere Wiener Regenwolkendecke blitzt 🙂

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  7. Ulf Runge sagt:

    Liebe Ellen,

    schön, dass Du auch bisweilen sooone Gedanken hegst und pflegst wie ich.
    Du hast das schön formuliert, dass sich das Gedachte und Begrübelte dadurch
    sozusagen in Luft auflöst…

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  8. Ulf Runge sagt:

    Liebe Andrea,

    schön, dass Du mich so stehen „sehen“ konntest.
    Und ich unterstelle mal, dass es Deine guten Wünsche waren,
    die den heutigen Tag gut werden ließen.

    Danke. Im Gegenzug wünsche ich Dir nicht nur einen erfolgreichen
    Montag, sondern ein total super gute Woche!

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  9. Ulf Runge sagt:

    Lieber Ernst,

    danke für den Tipp. Da werde ich mich mal schlau machen müssen.

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  10. Ulf Runge sagt:

    Liebe Elisabeth,

    danke für Deine lieben Worte.
    Es freut mich, dass Du Dich in meinen Gedankengängen
    wiederfindest. Und das auch in Worte fasst!

    Wobei, den Sonnenschein über Österreich, über Mitteleuropa,
    über Europa, bist dafür nicht Du verantwortlich?
    Und das hast Du gut gemacht, die vergangenen Tage… 🙂

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  11. Mo sagt:

    Hallo lieber Ulf,
    was für eine reizende Geschichte.
    Ich für mich kann sagen, ich fälle solche Entscheidungen (Einkaufswagenrückgabe, Taschentuch aufheben..) meist in Bruchteilen von Sekunden.
    Mir angebotene Rabattmarken verschenke ich direkt an der Kasse, indem ich frage wer Interesse daran hat, wenn keiner antwortet, verzichte ich auf diese. Es kommt auch vor, dass ich den Einkaufswagen mit dem Euro einfach so an den nächsten reiche, mit dem Hinweis, dass der Euro behalten werden kann, auch diese Entscheidung fälle ich innerhalb von Sekunden, ohne großartig darüber nachzudenken, warum ich das mache.

    Liebe Grüße,
    Mo

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  12. tshalina sagt:

    Ich fands früher immer lustig, wenn ich (hauptsächlich) ausländische Mitbürger sah, die Einkaufswägelchen entführten und als Transportmittel für ihre Kleinkinder und Einkäufe nutzten. Dann kam der Euro. Aber noch spannender finde ich die Entwicklung, dass extrem Faule sogar auf den Euro verzichten, nur um nicht einen Meter weiter zu laufen. Mittlerweile wird der Mann, der die Einkaufswägelchen sammelt und für andere wegräumt unter Umständen mit Trinkgeld bezahlt. 🙂

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  13. Nicole sagt:

    Hey Ulf, du willst mir aber nicht wirklich sagen, dass du dir über den Satz „wohl wissend, dass von Fahrgästen sauber gehaltene Züge weniger Reinigungspersonal benötigen“ den Kopf zerbrichtst? Come on, das glaub ich nicht 🙂
    Ansonsten: wirklich nett geschrieben, vor allem der Zwiespalt beschrieben. Gefällt mir.
    Liebe Grüße
    Nicole
    *schon.seit.8.Jahren.kein.Reinigungspersonal.in.RB.gesehen*

    :-))

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  14. Ulf Runge sagt:

    Liebe Mo,

    ich vermute mal,
    dass Deine Spontaneität und Dein Altruismus Dich manchmal
    selber überraschen. So wie Du Deine Umwelt 🙂

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  15. Ulf Runge sagt:

    Liebe Tshalina,

    dass die Euro-Einführung dazu geführt hat,
    dass die Wägelchen nicht mehr fremdbestimmt verwendet werden,
    kann ich nicht direkt nachvollziehen 😉

    Dass der Einkaufswagen incl. 1EuroStück sozusagen als Trinkgeld
    fürs Aufräumen dient, habe ich (zum Glück) bisher auch noch nicht
    erlebt.

    Ich halte es da – ohne geizig erscheinen zu wollen – mit Dagobert Duck:
    Wer den Kreuzer nicht ehrt, ist des Talers nicht wert…

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  16. Ulf Runge sagt:

    Liebe Nicole,

    danke für Dein Kompliment.

    Reinigungspersonal: Lass uns mal mit dem 7.23 in die große Stadt fahren,
    dann zeige ich Dir einen ganz besonders freundlichen Herren, der im
    letzten Waggon reinigt. Da geht Dir das Herz auf…

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  17. Elisabeth sagt:

    Hm, naja, vielleicht hab ich das über Deutschland zusammen gebracht, das mit dem Sonnenschein, der ROTE NASEN Tag in Wien allerdings war leider ziemlich verregnet…
    Liebste Sonnengrüße von Elisabeth

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  18. Ulf Runge sagt:

    Liebe Elisabeth,

    ich bin sicher, dass Deine Sonnengrüße sogar bis heute Nachmittag
    nachgewirkt haben.

    Wann immer ein Hoch Ulf über Österreich liegen wird,
    ich werde es geschicht haben.

    Wobei? Sind Hochs männlich? Oder Tiefs?
    Ich guck jetzt nicht in Gugelpedia nach…

    Liebe Grüße,
    Ulf

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