Grüße von hier

am
Leben 263 – Mittwoch, 04.06.08

Ich weiß nicht, ob Sie mich noch kennen. Von früher her. Ich glaube schon, dass Sie sich an mich erinnern werden, wenn ich Ihrem Gedächtnis ein wenig nachhelfe. Sie werden sich damals gewundert haben, warum ich so plötzlich weg war. So plötzlich und spurlos. Ob mir was zugestoßen sei, haben sich damals wohl einige von Ihnen gefragt. Untergetaucht! Werden andere gedacht haben. Irgendein krummes Ding gedreht und dann ab nach Rio. Oder sonstwohin.

Ich habe jetzt endlich Gelegenheit, hier Klarheit in das Thema zu bringen, nachdem nun heute das Bridge-Abkommen geschlossen wurde. Aber der Reihe nach.

„… Ihnen bekannt ist, wird sich die Versorgung der Weltbevölkerung mit Lebensmitteln, Trinkwasser, guter Luft und Arbeitsplätzen zunehmend schwieriger gestalten…“ las ich da, gerade nach Hause gekommen, im Brief der Gerechtigkeitsbehörde. Alles war inzwischen auf E-Mail umgestellt, nur dieses Amt schrieb noch Briefe, um keine Entlassungen bei den Briefzustellern zu riskieren.

„… haben wir entscheiden müssen, Sie bis auf weiteres in die Parallelwelt ´Jugendträume´ zu dislozieren…“ Mir stockte der Atem, da gab es kein vertun, die wollten mich verlegen, dislozieren nannten sie das, wie damals bei den Pershing-Raketen, ich sollte raus aus dieser Welt, und was alle hinter vorgehaltener Hand immer wieder tuschelten, das bewahrheitete sich jetz wohl: Es gab sie, diese Parallelwelt, vielleicht auch Parallelwelten. Nur dass es niemand gab, der irgendwohin gegangen, irgendwoher gekommen war, und sich erinnern konnte, etwas berichten konnte.

Morgen sei der Dislozierungstermin, schrieben die da noch weiter, ich solle mich dezent von allen meinen Lieben verabschieden, wobei ich von der Parallelwelt nichts erzählen dürfe.

„Sie haben eine Stunde, Ihren Schreibtisch aufzuräumen!“ Diese Horroransage bei fristloser Kündigung, die ging mir jetzt durch den Kopf. Acht Stunden waren es noch bis Morgen. Zuwenig, um alle offenen Fragen zu regeln.

Ich bestand darauf, dass wir alle gemeinsam einen fernsehfreien Abend verbrachten, unser Abendessen selten lange zelebrierten, jeder sollte heute erzählen, was sie, was ihn am meisten bewegt hatte heute, und sie wunderten sich ein bisschen über mich, ob ich denn nun total übergeschnappt sei. Egal, es war ein schöner Abend. Selten schön.

Dass ich mich hier überhaupt bei Ihnen mal wieder melden darf, geschieht unter Auflage, dass ich über ´Jugendträume´ nichts erzähle. Das sei im Bridge-Abkommen zwischen den Parallelwelten so vereinbart, und wer sich nicht dran hält, muss mit Sanktionen rechnen…

Aber eins weiß ich. Wenn ich nicht in die Parallelwelt verlegt worden wäre, ich hätte öfter so einen Abend gestaltet, als sei morgen der Termin. An dem ich mich verabschiede. Plötzlich. Spurlos.

© Ulf Runge, 2008

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. Mamü sagt:

    Lieber Herr Runge,
    so war doch ihr Name, oder? Kenne ich Sie? Also, irgendwie kommen Sie mir schon bekannt vor… nett, dass Sie mich grüßen… 😀

    Lieber Ulf,

    ein wirklich schöner Text, humorvoll, phantasievoll und doch auch ein wenig traurig und tiefgründig. Ich bin sehr angetan, auch von der Botschaft, die der Text in sich trägt…

    Einen lieben Gruß,
    Martina

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  2. Mein lieber Ulf … 🙂

    das Thema, es umkreist mich jetzt seit Wochen. Die Kreise um mich herum werden immer enger … Tod, Abschied, was ist mir wirklich wichtig zu tun, nichts aufschieben … Es sind wohl Worte in mir, die gehört und geschrieben werden wollen …

    Irgendwas in mir traut sich noch nicht … aber, durch Deinen Beitrag bin ich jetzt ganz nah dran 😉

    Ich danke Dir … und sende einen sonnigen Morgengruß aus Düsseldorf!

    Ulrike

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  3. Ulf Runge sagt:

    Liebe Martina,

    danke. Ja, auf diesen Text muss man sich einlassen wollen.
    Ich freue mich, dass Du etwas aus diesem Beitrag für Dich mitnimmst.

    Liebe Grüße,
    Ulf

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  4. Ulf Runge sagt:

    Liebe Ulli,

    danke für Deine Worte. Schön, wenn ich dazu beitragen kann,
    dass Deine kreisenden Gedanken wohl bald zu Worten werden.

    Liebe Grüße an Dich und Dein Düsseldorf 🙂
    Ulf

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