Leben 31 – Donnerstag, 14.06.07 – Plastik

Ich hole noch einmal tief Luft, atme aus, schließe kurz die Augen, öffne sie wieder, und werde gaaanz ruhig. Ich stelle mich an die Arbeitsplatte, gehe langsam in die Hocke und nehme den Griff vom Unterschrank behutsam in die rechte Hand. Die andere lege ich flach auf die Tür, so als wollte ich einen Tresor ganz vorsichtig öffnen.

Nur, dass es kein Tresor ist. In diesem Unterschrank wartet ein ganz besonderer Teil unseres Vermögens auf mich. Langsam öffne ich die Tür, möglichst ruckfrei und gleichmäßig, bis ich einen überwältigenden Blick auf das Kunstwerk habe.

Vorsichtig strecke ich die linke Hand hinein. So muss es sein, wenn man einen Bruch übt, etwa bei der Bank von England. Bewegungsmeldergesichert. Lichtschrankengesichert. Hochspannungsgesichert. Vorsichtig ergreife ich den Gegenstand meiner Begierde, ich habe ihn schon frei in meiner Hand, jetzt darf, jetzt kann nichts mehr schief gehen!

Kennen Sie Mikado? Lieben Sie Mikado? Man muss Mikadospieler sein, Profi, 1. Bundesliga, um nachvollziehen zu können, was in so einem Augenblick abgeht. Du hast es schon in der Hand. Ziehst es langsam heraus. Und dann: OOOOOOHRENBETÄUBENDER LÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄRM! Ich bin mir bis heute noch nicht sicher, ob man diesbezüglich von einer Kunstbrettlawine oder eher von einer Kunstdosenlawine reden kann. Obwohl ich auf alles gefasst gewesen war, verliere ich das Gleichgewicht und falle rücklings auf meinen Hintern.

Ich sitze auf dem kalten Fliesenboden, und meine Beine sind übersät mit Tapperwär! Kleine und große Plastikdosen, ohne Deckel, weil man die mit Deckel nicht stapeln kann; die Deckel ihrerseits rollen jetzt in diesem Augenblick aus dem Schrank heraus. Die von mir gesuchte und auch schon im Auswahlprozess befindliche Butterbrotdose ist mir aus der Hand gerutscht und zwei Meter weiter geflogen. Sie hat eine ungebremste Landung in der Wasserschüssel unseres Hundes vollführt und fühlt sich dort bestimmt etwas deplaciert.

Tapperwär ist die hohe Kunst, mit unendlich abzählbar vielen Behälterversionen die Illusion zu erwecken, man habe das Problem der Essensreste gelöst. Einfach ein Döschen aus dem Schrank, den Rest hinein, Deckel drauf und – da fängt’s schon an: Deckel drauf? Nahezu beliebig viele Deckel gucken Dich an, nur nicht der passende. Deckel anderer Bauserien und Deckel aus der gewünschten Bauserie, leider aber keiner in der benötigten Größe.

Hast Du nach vollständiger Inventur des Tapperwär-Schrankes dann doch den passenden Deckel gefunden, lässt man eine noch warme Speise abkühlen, bevor sie in den Kühlschrank darf. Da der Kühlschrank mitunter nicht ganz leer ist, muss alles ein bisschen zusammenrücken, mehrere Tage alte Tapperwär Dosen werden entsorgt, besser gesagt, ihr Inhalt.

Bei Tapperwär frage ich mich immer: Sind diese Produkte Teil der Lösung oder Teil des Problems? Den größten Teil ihrer Zeit fristen die Tapperwärhelfer sauber gespült im Schrank, im Tapperwärschrank. Dieser zeichnet sich durch zwei immer wieder alternativ genutzte Ordnungsmechanismen aus: „Es muss doch einen Trick geben, wie man diesen Sch… sinnvoll stapeln kann!“ Oder: „Eh egal, da fliegt sowieso wieder alles raus.“

Inzwischen sind Hund und übrige Familie zur Stelle geeilt und sehen entsetzt (der Hund) bzw. belustigt (die Familie), wie ich ein Bad in den Tapperwärfluten nehme. Nachdem mehr als die Hälfte der Utensilien ordentlich verstaut ist, muss der Schrank in einem gewissen Sinne als voll betrachtet werden. Die übrigen Teile werden vorsichtig auf die anderen draufgestapelt, ein neues Kunstwerk entsteht, von dem noch nicht abzusehen ist, wie viele Stunden lang es uns erfreuen wird, drinnen, im Schrank.

Meine Tochter betritt die Küche, sieht, wie ich ihre Brote für morgen schmiere. „Du, meine Brotbüchse muss erst mal abgespült werden, die ist ja im Hundewasser gelandet.“ Hebt die Brotbüchse auf, bringt sie zur Spüle, stellt sie dort ab. Mit starrem Blick folge ich ihren Bewegungen, die nun zielgerichtet auf den Unterschrank zusteuern. Ihre rechte Hand greift zur Tür. Öffnet elanvoll besagten Unterschrank! KLAPPKRACHBUMMMM! Ihre verdutzte Miene weicht langsam einem breiten Grinsen, als sie den halbmeterhohen Plastikturm zu ihren Füßen erblickt. Und in ein nichtendenwollendes Lachen fällt…

© Ulf Runge, 2007

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. Renate Blaes sagt:

    Köstlich! Und treffend! Ich hab zwar keine Tapperwär aber ähnliche Dinge – in meinem alten Küchenschrank. Gut ist, dass ich Herausforderungen liebe. Nur, wenn ich es eilig habe, dann wird die Angelegenheit mit dem stets wankenden Stapel sehr lästig und hin und wieder hören meine Lieben mich laut fluchen … klappkrachbumm!

    Like

  2. Ulf Runge sagt:

    Dann gibt es noch mehr an Plastik verzweifelnde Menschen auf diesem Planeten? Beruhigend… 😉

    Like

  3. christiane sagt:

    Hallo Ulf, ja da gibt es wohl ganz viele. Ich habe genau das gleiche Problem und nie ist das im Schrank, was macht gerade benötigt also was macht man??
    Genau man bringt dieses Teil beim nächsten Einkauf mit und benutzt in der Zwischenzeit eine größere Schüssel oder zwei kleine je nach dem und wenn das neue Teil zu den anderen im Schrank kommt fällt bestimmt das gesuchte noch heraus. Also wieder was zu viel. Eigentlich sollte man es mit Feng Shui halten, was Du ein Jahr nicht benutzt hast….. weg damit. Aber Mann/Frau könnte es vielleicht doch noch mal aufheben.
    Also wird es wieder zurück zu seinen Artgenossen gestellt.

    Like

  4. Ulf Runge sagt:

    You are not alone, sagst Du mir. Und allen anderen, die mit diesen praktischen Plastikhelferlein leben.

    Danke, Christiane, für Deinen Beistand.

    Viele Grüße, Ulf

    Like

Hinterlasse einen Kommentar